18.04.2024 Versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringen Zum Gedenken an Franz Xaver Kaufmann (1932-2024)

Was Karl Marx in erstaunlicher Klarsicht gelungen ist: der kapitalistischen Gesellschaft gewissermaßen einen Spiegel vorzuhalten und ihre erstarrten Macht- und Denkstrukturen aufzudecken, hat Franz Xaver Kaufman aus soziologischer Perspektive auf den institutionellen Bereich der katholischen Kirche angewandt: „… man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“

Wie aktuelle Studien, etwa die jüngste Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung (KMU 6/ 2023), unmissverständlich ausweisen, sind die seit Jahrzehnten stattfindenden Säkularisierungsschübe, katholischerseits durch die multiple Kirchenkrise verstärkt, unübersehbar. Doch um die statistisch feststellbare Erosion der Volkskirchlichkeit einzuordnen, braucht es einen weiten, aber auch entlastenden Blick auf die religionskulturellen Veränderungen und die historisch gewachsenen Strukturen. Seit dem 11. Jahrhundert, nach dem Großen Abendländischen Schisma von 1054, wurde die katholische Kirche im Rahmen des lateinischen Patriarchats und im Rückgriff auf die Rechtsform des römischen Rechts „immer provinzieller, römischer und doktrinärer“ (34). Seit der Reformation musste sich die römisch-katholische Kirche zudem mit der Ko-Existenz abweichender Glaubensgemeinschaften und Doktrinen wie der Aufklärung abfinden, was in den daraus folgenden Auseinandersetzungen zu einer wachsenden Rigidität und Abgrenzung von der Moderne führte – bis hin zum „Syllabus errorum“ Papst Pius‘ IX. (1864), der die Lehren des Modernismus verurteilte. „Vielleicht wird man die Zeit die Pius-Päpste – von Pius IX. (gewählt 1846) bis Pius XII. (gestorben 1958) rückblickend als eine Zeit der religiösen Überanstrengung der Gläubigen charakterisieren“, resümiert Kaufmann und verweist auf die durchaus erfolgreiche Abschottungsstrategie die Katholischen Kirche zwischen dem I. und II. Vatikanischen Konzil, „eine in der Christentumsgeschichte seit der Konstantinischen Wende wahrscheinlich einmalige Kongruenz zwischen Priesterreligion und Volksreligion“(174), die sich in den letzten Jahrzehnten wieder aufzulösen scheint. Die Kirche „entfaltete ihr Kirchenverständnis als absolute Herrschaft im Namen Gottes … Nach dem Verlust des Kirchenstaats verschob sich der absolutistische Gehorsamsanspruch ins Geistige. Die Kirche suchte die Kontrolle der Gewissen, nicht nur der kirchlichen Praxis, und moralisierte vor allem das Privatleben in einer Zeit, wo dieses sich allmählich von den politischen und sozialen Kontrollen emanzipierte.“ (174)

Es ist faszinierend, wie es F.X. Kaufmann gelingt, als überzeugter Katholik und ausgewiesener Soziologe die Kirchenentwicklung der letzten Jahrzehnte mit der gebotenen Distanz in den größeren Kontext zu setzen, um die „versteinerten Verhältnisse“ tanzen zu lassen. Denn es wird deutlich, dass die schon nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende religiöse Erosion mit der Auflösung ehemals weitgehend homogener Milieus einsetzte, befördert durch die Verbreitung von entgrenzenden Massenkommunikationsmitteln: Vorbedingung postmodernen Denkens und der grundsätzlich positiven Einstellung, die Chancen individueller Freiheit im Umgang mit der Pluralität verschiedener Sinnsysteme, Weltanschauungen und Parteiungen zu nutzen. (47)

Es war schließlich das Zweite Vatikanische Konzil, mit dem die katholische Kirche den nachhaltigen Versuch unternommen hat, mit den Herausforderungen der Aufklärung und den sich wandelnden Selbstverständlichkeiten der Moderne umzugehen. „Man muss den Staub abschütteln, der sich seit Konstantin auf Petri Thron angehäuft hat“, so Papst Johannes XXIII., der mit der Einberufung des „Pastoralkonzils“ einen epochalen Wandel eingeleitet hat. Ohne das Bild einer weiterhin hierarchischen und papstzentrierten Kirche in ihren dogmatischen Grundlagen in Frage zu stellen, wurden im Selbstbild des „wandernden Gottesvolkes“ die theologischen und sozialen Akzente doch erheblich verschoben; und mit der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes gelang eine umfassende Positionsbestimmung der „Kirche in der Welt von heute“ (7.12.1965). So ist es heute an Papst Franziskus, mit dem von ihm angestoßenen Synodalen Prozess inhaltlich und formal an das Konzil anzuknüpfen: „Die Synode war der Traum von Paul VI. Als das Zweite Vatikanische Konzil endete, erkannte er, dass die Kirche im Westen die synodale Dimension verloren hatte. Deshalb schuf er das Sekretariat für die Bischofssynode, um die Arbeit daran aufzunehmen.“ (Vida Nueva, 4.8.2023)

„Versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringen!“ Das – so die Intention Franz Xaver Kaufmanns – wäre keineswegs destruktiv zu verstehen im Sinne der „Schleifung der Bastion“ (Hans Urs von Balthasar). Vielmehr wird da, wo man einander jene ureigene Melodie des Gottesgeistes vorsingt, das Verhältnis von Freiheit und Einheit neu austariert. Denn „wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). Nicht Pflicht also, sondern Kür – auf eine befreiende Art miteinander Kirche sein; und es würde mich nicht wundern, wenn diese Lebensmelodie selbst versteinerte Verhältnisse in der globalen Welt zum Tanzen bringt.

Peter Klasvogt, Schwerte

¹ Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1844), MEW 1, 181. Dieses Zitat schmückt als Untertitel zugleich F.X. Kaufmanns letztes Buch: Katholische Kirchenkritik, Luzern 2022. Darauf beziehen sich auch die Zitate im Text.